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Maruch Sántiz Gómez
Maya-Fotografin aus Mexiko
Von Michael M. Thoss

Das Motiv des Indios erfreut sich in der mexikanischen Fotografie seit jeher großer Beliebtheit und prägt das Bild Mexikos im Ausland bis heute entscheidend mit. Bei den Klassikern Manuel Alvarez Bravo und Juan Rulfo wie auch bei jüngeren Fotografen erscheint der Indio zumeist im Bann von Magie, Masken und Ritualen.

Die Überhöhung des indianischen Erbes durch Künstler und Intellektuelle steht jedoch in scharfem Kontrast zu den tatsächlichen Lebensverhältnissen der indigenen Bevölkerung. Viele mexikanische Fotografen, die gemeinhin der städtischen Bourgeoisie des Landes entstammen, spiegeln diese Ambivalenz in ihren Bildern wider: Sie beschreiben den Indio als ein ewiges Mysterium, als Vorfahre und Underdog zugleich, mit dem sie auf Distanz leben.

In ihrem 1991 erschienenen Fotoband Testigos del Tiempo (Zeugen der Zeit) stellt Flor Garduño, eine Schülerin von Alvarez Bravo, die Hochlandindianer von Bolivien bis Mexiko als Relikte einer von Mythen durchdrungenen Vergangenheit dar. Im Vorwort ihres Buches schreibt Carlos Fuentes: "Höhepunkt dieser Fotoserie sind die nackten, von Masken befreiten Gesichter jener, die wir nur dank der Masken, der Weihrauchzeremonien und der Schatten wahrnehmen können, die ihnen vorausgingen."

Auch die Schriftstellerin Elena Poniatowska frönt in ihrem Kommentar zu Graciela Hurbides Porträts indianischer Frauen aus Juchitán (Juchitán de las Mujeres, 1991) einer Art anthropologischem Essentialismus, wenn sie schreibt: "Juchitán ist ein mythischer Raum, wo der Mensch seinem Ursprung und die Frau ihrem eigentlichen Wesen begegnet."

Die beiden bekanntesten Literaten Mexikos, die sich selbst zu der aufklärerischen Linken ihres Landes zählen, verklären hier ihre indianischen Mitbürger auf eine Weise, die letztendlich gängigen Vorurteilen das Wort redet. Denn das Vorurteil, der Indio verharre seit Jahrhunderten in einem quasi ahistorischen Zustand, dient vielerorts als Vorwand dafür, seine gesellschaftlichen Rechte zu missachten und ihm die Teilhabe an unserer Gegenwart zu verweigern.

Vor diesem Hintergrund wird die geistige Unabhängigkeit und formale Kühnheit der fotografischen Arbeiten von Maruch Sántiz Gómez deutlich. Maruch wurde 1975 im südmexikanischen Distrikt Chamula in Chiapas geboren. Im Schriftstellerhaus von San Cristóbal de las Casas lernte sie 1993 das Fotografieren und beteiligte sich am Aufbau des Indigenen Fotoarchivs der Stadt.

In Maruchs ersten Schwarz-Weiß-Fotografien begegnen wir einfachsten Gebrauchsgegenständen aus ihrem Dorf Cruztón: einer Kalebasse zum Backen von Tortillas, einem Korb mit Kohlstielen, abgehackten Hühnerkrallen auf einem Holzschemel. Außerdem sehen wir Haustiere, Kinder und Frauen, allesamt von oben und auf nacktem Lehmboden aufgenommen.

Die Fotos überraschen durch ihre Kargheit. Maruch vermittelt zwar die prekären Lebensbedingungen der Dorfbewohner, vermeidet dabei aber jedes Ansinnen von Anklage. Ihre Fotografien versieht sie mit kleinen Texten in der Tzotzil-Sprache. Auf den ersten Blick können diese als Kommentare verstanden werden. Es handelt sich um creéncias, jene Lebensweisheiten, die über die fotografierten Objekte und Situationen hinaus auf eine andere, nicht sichtbare Bedeutungsebene verweisen: Es sind Lebensweisheiten, die Maruch als Kind von ihrem Urgroßvater zugeflüstert wurden und die sie später aus ihrer Nachbarschaft und verschiedenen Gemeinden Chamulas zusammengetragen hat.

Mit dieser Sprichwortsammlung eröffnet uns Maruch eine Welt kollektiver Vorstellungen, welche Natur und Objekte gleichermaßen durchwirken und ‚beseelen': Die creéncias können deshalb auch als ein praktischer Ratgeber für eine mehrdeutige Wirklichkeit verstanden werden, mit dem man unbeschadet durch den Alltag findet: "Es ist für Kinder schädlich, Hühnerfüße zu essen. Denn das Mädchen wird danach ihr Garn im Webstuhl verwickeln und dem Jungen passiert das gleiche mit seinem Lasso", heißt es darin. "Iß nicht die erste Tortilla aus dem Ofen, sonst wirst du redselig und sprichst schlecht über andere Leute."

Was dem Außenstehenden in den Texten übersinnlich anmuten mag, ist in der Lebens- und Vorstellungswelt der Mayas in ein und derselben Realität enthalten. Maruch Santíz Gómez führt uns mit ihren Fotografien in ein System von Zeichen ein, das die sozialen Beziehungen und kollektiven Vorstellungen ihrer Kultur in eins setzt. So sind Maruchs visuelle Übersetzungen der Lebensweisheiten unserer Vorfahren gleichzeitig Anleitungen für die Gegenwart. Ihre Fotografien sind zeitgenössisch und konzeptuell, insofern sie den konkreten Dingen Ausdruck verleihen: Denn für die Tzotzil - so heißt es - ist das Konzept in den Dingen selbst enthalten, auch Gott ist nicht abstrakt (1). Indem Maruch unseren Blick zuerst auf die alltäglichen Dinge ihrer Umgebung lenkt, bewahrt sie uns vor dem ethnologischen Blick, der - so wohlwollend er sich auch geben mag - immer eine Art von Voyeurismus bleibt.

Was Maruch als creéncias bezeichnet, mag manchem als Aberglaube vorkommen. Doch täuschen wir uns nicht: Die von Maruch gesammelten Lebensweisheiten stellen gleichzeitig Überlebensstrategien einer bedrohten Minderheit dar. Denn von der gern zitierten kulturellen Vielfalt Mexikos, das sich seiner 62 Indianersprachen rühmt, wird schon bald nicht mehr allzu viel zu hören sein: nach Schätzungen der UNESCO könnte ein Drittel der indianischen Sprachgemeinden in Mexiko innerhalb der nächsten zehn Jahre verschwinden. Insofern bewirken die fotografischen Arbeiten Maruchs auch ein ständiges Erinnern und Erneuern des eigenen kulturellen Erbes.

 

Anmerkung:
1) Hermann Bellinghausen in: Creéncias de nuestros antepasados, Mexiko 1998

 


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