MEXartes-berlin.de / Ausstellungen / Rubén Ortiz Torres
http://www.mexartes-berlin.de/deu/expo/ortiz/thoss-ortiz.html << zurück


"Ich, Rubén Ortiz Torres, Professor an der Universität der Kalifornischen Lande, Verfasser dieser wirklichen und wahrhaftigen Geschichte, die ich nun preisgebe, und die bei den Entdeckungsreisen und der Eroberung des Neuen Amerika beginnt, und berichtet, wie die große Stadt Mexiko fotografiert worden, und ebenso viele andere Städte, und bis zu jener Zeit reicht, als sie um ihren Frieden gebracht und wie viele Ortschaften mit Mexikanern bevölkert worden, schicke mich nun an, diese unseren Königen und Herren zu überbringen und auszuhändigen, so wie es unsere Pflicht gebietet. Da selbige höchst bemerkenswerte und denkwürdige Dinge enthält, versichere und bestätige ich, dass alles, was in diesem Buch enthalten, der ganzen Wahrheit entspricht, und dass, wie ich bezeuge, ich selbst mich auf allen Fotografien finde, und dass es sich dabei weder um alte Märchen, noch um tausendzweihundert Jahre alte Römergeschichten handelt. Da, wie man zu sagen pflegt, erst gestern geschehen, was in meiner Geschichte zu erfahren, dies getreu dem, wie und wann und auf welche Weise es sich zugetragen hat."


Diese Zeilen mit unverkennbar mittelalterlichem Sprachduktus hören sich an wie aus einem bekannten Ritterroman z.B. dem Amadis de Gaula (einem Bestseller des 16.Jahrhunderts), andererseits wie einer jener zahlreichen Reiseberichte, die Europäer über die Entdeckung und Eroberung der sogenannten Neuen Welt verfassten. Der Autor jedoch ist der 1964 geborene Fotograf Rubén Ortiz Torres. Er nennt seine Chronik des 21. Jahrhunderts eine ‚Wahre Geschichte der Eroberung des Neuen Amerikas', in Anlehnung an jene Chronik des Bernal Diaz del Castillo, welche die blutige Inbesitznahme Mexikos durch die Mörderbande des Hernán Cortés und die Zerstörung der Hauptstadt Tenochtitlan im Jahre 1520 beschreibt.

Rubén Ortiz Torres schlüpft hier in die Rolle eines mittelalterlichen Reisereporters, der die mexikanische Hauptstadt mit den Augen eines Fremden betritt und seine Landsleute mit neugierigem Erstaunen mustert. Verwundert registriert er das bunte Treiben z.B. auf dem Weihnachtsmarkt im zentralen Alameda Park. Dort entstand im letzten Dezember seine fotografische Serie Die Andacht der Heiligen Drei Könige, die bis 3. November zum ersten Mal in Europa im Haus der Kulturen der Welt vorgestellt wird. 500 Jahre nach der spanischen Conquista kommen die Eroberer nicht mehr aus Europa, sondern aus jenem Imperium des Nordens, in auch der Fotograf seit 1990 hauptsächlich lebt.

Doch die sukzessiven Eroberungen Mexikos hatten immer zwei Seiten und viele Sekundäreffekte: Heute ist das übermächtige Reich des Nordens selbst unterwandert und wechselt langsam, aber sicher sein Gesicht. Nördlich der mehr als 3000 Kilometer langen Grenze zwischen Mexiko und den Südstaaten Kalifornien, Arizona, New Mexico, Texas wird täglich mehr Spanisch gesprochen. Jedes Jahr überschreiten mehr als 100.000 Mexikaner illegal diese Grenze und tragen dazu bei, daß die hispanics in den 1848 annektierten Gebieten bis Mitte dieses Jahrhunderts wieder die Bevölkerunsmehrheit darstellen werden.
Ruben Ortiz Torres ist ein Grenzgänger, der das Privileg hat, den kulturellen Wandel entlang der Grenze zwischen Mexiko und den USA regelmäßig von beiden Seiten beobachten zu können. Dieses sich sich kontinuierlich wandelnde Grenzgebiet, wo sich die anglo- und lateinamerikanischen Kulturen kreuzen und neu vermischen, ist jenes Borderlandia oder Fronterilandia, in dem der Künstler seine fotografischen Schelmenromane spielen läßt.

"Mit meinen Fotografien erforsche ich die kulturellen Veränderungen südlich und nördlich unserer porösen Grenze", schreibt der Künstler. "Diese Reise führte mich zu unerwarteten Orten, ins Jenseits neuer Galaxien und in mittelalterliche Königreiche der Gegenwart".

Für Ruben Ortiz Torres ist das Fantastische keine Metapher, sondern ein wesentlicher Bestandteil des American Dream. Diesen Amerikanischen Traum mit seinen Ikonen und Symbolen seziert Ruben Ortiz Torres in so unterschiedlichen Medien wie der Malereien und Installationen, der Fotografie und des Videofilms.

Das angeblich Authentische, typisch Mexikanische erscheint hier nur mehr als ein Widerschein der alles beherrschenden Kultur, ihrer Clichés und Stereotypen vom vermeintlich Anderen; als ein Ausdruck der fortschreitenden Disneyfizierung der Welt, die auch Mexiko bereits zum Themenpark einer globalisierten Freizeitindustrie verwandelt hat:. Der Revolutionär Zapata als Werbefigur für mexikanisches Fastfood oder mittelalterliche Ritter vor einer Freiheitsstatue aus Pappmaché sind für Rubén Ortiz zwei Phänomene ein- undderselben grenzüberschreitenden Transkulturation. Auch der Ruf der Azteken: "Wir sind ein Volk ohne Grenzen" erhält von der anderen Seite des Grenzzaunes aus vernommen - wo nahezu 10 Millionen Mexikanern leben - eine ganz andere und hochaktuelle Bedeutung.

Mit dieser Ironie ist auch die Ausstellung American Monarchy/Kosmische Rasse in der Brotfabrik zu verstehen, die Fotoarbeiten aus den Jahren 1995 - 2002 umfaßt: Hier kollidieren gleich zwei Mythen der Neuzeit, von denen US-Amerikaner und Mexikaner ihre Herkunft und nationalen Identitäten herleiten: Der mexikanische Philosoph José Vasconcélos wollte sein Volk noch in den Stand einer kosmischen Rasse erheben, indem er den Mestizen als Resultat einer gelungenen Vermischung von indianischem und europäischen Erbe pries. Dieses einstige Ideal ethnischer Verschmelzung hat sich für Ruben Ortiz Torres heute in den Kult der Außerirdischen und ETs verflüchtet, die viele seiner Bilder bevölkern. Andere Arbeiten zeigen uns, wie die älteste Demokratie der Neuen Welt dem Traum einer Amerikanischen Monarchie frönt und damit ihre weltweit größten dreamfactories Hollywood und Las Vegas in Schwung hält. Rubén ist ein Chronist jener kollektiven Albträume und unverwirklichten Utopien des American Dream, dessen Fotografien als eine zeitgemäße Version von Goyas Malereien hybride Wesen und Ungeheuer der Unvernunft gebären.

Michael M. Thoss

 


<< zurück © Copyright: Autor