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"Ich, Rubén Ortiz Torres, Professor an der Universität
der Kalifornischen Lande, Verfasser dieser wirklichen und wahrhaftigen
Geschichte, die ich nun preisgebe, und die bei den Entdeckungsreisen
und der Eroberung des Neuen Amerika beginnt, und berichtet, wie
die große Stadt Mexiko fotografiert worden, und ebenso viele
andere Städte, und bis zu jener Zeit reicht, als sie um ihren
Frieden gebracht und wie viele Ortschaften mit Mexikanern bevölkert
worden, schicke mich nun an, diese unseren Königen und Herren
zu überbringen und auszuhändigen, so wie es unsere Pflicht
gebietet. Da selbige höchst bemerkenswerte und denkwürdige
Dinge enthält, versichere und bestätige ich, dass alles,
was in diesem Buch enthalten, der ganzen Wahrheit entspricht,
und dass, wie ich bezeuge, ich selbst mich auf allen Fotografien
finde, und dass es sich dabei weder um alte Märchen, noch
um tausendzweihundert Jahre alte Römergeschichten handelt.
Da, wie man zu sagen pflegt, erst gestern geschehen, was in meiner
Geschichte zu erfahren, dies getreu dem, wie und wann und auf
welche Weise es sich zugetragen hat."
Diese Zeilen mit unverkennbar mittelalterlichem Sprachduktus hören
sich an wie aus einem bekannten Ritterroman z.B. dem Amadis de
Gaula (einem Bestseller des 16.Jahrhunderts), andererseits wie
einer jener zahlreichen Reiseberichte, die Europäer über
die Entdeckung und Eroberung der sogenannten Neuen Welt verfassten.
Der Autor jedoch ist der 1964 geborene Fotograf Rubén Ortiz
Torres. Er nennt seine Chronik des 21. Jahrhunderts eine Wahre
Geschichte der Eroberung des Neuen Amerikas', in Anlehnung an
jene Chronik des Bernal Diaz del Castillo, welche die blutige
Inbesitznahme Mexikos durch die Mörderbande des Hernán
Cortés und die Zerstörung der Hauptstadt Tenochtitlan
im Jahre 1520 beschreibt.
Rubén Ortiz Torres schlüpft hier in die Rolle eines
mittelalterlichen Reisereporters, der die mexikanische Hauptstadt
mit den Augen eines Fremden betritt und seine Landsleute mit neugierigem
Erstaunen mustert. Verwundert registriert er das bunte Treiben
z.B. auf dem Weihnachtsmarkt im zentralen Alameda Park. Dort entstand
im letzten Dezember seine fotografische Serie Die Andacht der
Heiligen Drei Könige, die bis 3. November zum ersten Mal
in Europa im Haus der Kulturen der Welt vorgestellt wird. 500
Jahre nach der spanischen Conquista kommen die Eroberer nicht
mehr aus Europa, sondern aus jenem Imperium des Nordens, in auch
der Fotograf seit 1990 hauptsächlich lebt.
Doch die sukzessiven Eroberungen Mexikos hatten immer zwei Seiten
und viele Sekundäreffekte: Heute ist das übermächtige
Reich des Nordens selbst unterwandert und wechselt langsam, aber
sicher sein Gesicht. Nördlich der mehr als 3000 Kilometer
langen Grenze zwischen Mexiko und den Südstaaten Kalifornien,
Arizona, New Mexico, Texas wird täglich mehr Spanisch gesprochen.
Jedes Jahr überschreiten mehr als 100.000 Mexikaner illegal
diese Grenze und tragen dazu bei, daß die hispanics in den
1848 annektierten Gebieten bis Mitte dieses Jahrhunderts wieder
die Bevölkerunsmehrheit darstellen werden.
Ruben Ortiz Torres ist ein Grenzgänger, der das Privileg
hat, den kulturellen Wandel entlang der Grenze zwischen Mexiko
und den USA regelmäßig von beiden Seiten beobachten
zu können. Dieses sich sich kontinuierlich wandelnde Grenzgebiet,
wo sich die anglo- und lateinamerikanischen Kulturen kreuzen und
neu vermischen, ist jenes Borderlandia oder Fronterilandia, in
dem der Künstler seine fotografischen Schelmenromane spielen
läßt.
"Mit meinen Fotografien erforsche ich die kulturellen Veränderungen
südlich und nördlich unserer porösen Grenze",
schreibt der Künstler. "Diese Reise führte mich
zu unerwarteten Orten, ins Jenseits neuer Galaxien und in mittelalterliche
Königreiche der Gegenwart".
Für Ruben Ortiz Torres ist das Fantastische keine Metapher,
sondern ein wesentlicher Bestandteil des American Dream. Diesen
Amerikanischen Traum mit seinen Ikonen und Symbolen seziert Ruben
Ortiz Torres in so unterschiedlichen Medien wie der Malereien
und Installationen, der Fotografie und des Videofilms.
Das angeblich Authentische, typisch Mexikanische erscheint hier
nur mehr als ein Widerschein der alles beherrschenden Kultur,
ihrer Clichés und Stereotypen vom vermeintlich Anderen;
als ein Ausdruck der fortschreitenden Disneyfizierung der Welt,
die auch Mexiko bereits zum Themenpark einer globalisierten Freizeitindustrie
verwandelt hat:. Der Revolutionär Zapata als Werbefigur für
mexikanisches Fastfood oder mittelalterliche Ritter vor einer
Freiheitsstatue aus Pappmaché sind für Rubén
Ortiz zwei Phänomene ein- undderselben grenzüberschreitenden
Transkulturation. Auch der Ruf der Azteken: "Wir sind ein
Volk ohne Grenzen" erhält von der anderen Seite des
Grenzzaunes aus vernommen - wo nahezu 10 Millionen Mexikanern
leben - eine ganz andere und hochaktuelle Bedeutung.
Mit dieser Ironie ist auch die Ausstellung American Monarchy/Kosmische
Rasse in der Brotfabrik zu verstehen, die Fotoarbeiten aus den
Jahren 1995 - 2002 umfaßt: Hier kollidieren gleich zwei
Mythen der Neuzeit, von denen US-Amerikaner und Mexikaner ihre
Herkunft und nationalen Identitäten herleiten: Der mexikanische
Philosoph José Vasconcélos wollte sein Volk noch
in den Stand einer kosmischen Rasse erheben, indem er den Mestizen
als Resultat einer gelungenen Vermischung von indianischem und
europäischen Erbe pries. Dieses einstige Ideal ethnischer
Verschmelzung hat sich für Ruben Ortiz Torres heute in den
Kult der Außerirdischen und ETs verflüchtet, die viele
seiner Bilder bevölkern. Andere Arbeiten zeigen uns, wie
die älteste Demokratie der Neuen Welt dem Traum einer Amerikanischen
Monarchie frönt und damit ihre weltweit größten
dreamfactories Hollywood und Las Vegas in Schwung hält. Rubén
ist ein Chronist jener kollektiven Albträume und unverwirklichten
Utopien des American Dream, dessen Fotografien als eine zeitgemäße
Version von Goyas Malereien hybride Wesen und Ungeheuer der Unvernunft
gebären.
Michael M. Thoss
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