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Die Wortergreifung
Chronik einer nicht angekündigten Rebellion
Von Anne Huffschmid
November 1983
Eine Handvoll Stadtguerilleros gründen zusammen mit
politisierten Indio-Führern in der südöstlichen
Provinz Chiapas das Ejército Zapatista de Liberación
Nacional, die Zapatistische Armee zur Nationalen Befreiung (EZLN).
Erster Kulturschock der urbanen Marxisten: das Zusammenleben mit
den indigenen Dorfgemeinschaften.
Frühjahr 1993
Die Presse berichtet von Zusammenstößen zwischen der
Bundesarmee und Unbekannten in den Lacandonischen Wäldern.
Der Innenminister: "Hier gibt es keine Guerilla."
Januar 1994
Am 1. Januar tritt das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA
zwischen Mexiko, Kanada und den USA in Kraft - ein Erfolg für
die mexikanische Regierung. In derselben Nacht besetzen Truppen
der EZLN mehrere Bezirkshauptstädte in Chiapas. Im ersten
Manifest (Ya basta - Es reicht!) wird noch in martialischen Worten
der Regierung der Krieg erklärt. Dieser dauert jedoch nur
ein paar Tage, es gibt 150 Tote auf beiden Seiten. Am 12. Januar
demonstrieren hunderttausende in Mexiko-Stadt gegen das Vorgehen
der Armee, Präsident Salinas verkündet einen bis heute
andauernden Waffenstillstand. Zweiter Kulturschock: die Begegnung
mit einer "zivilen Gesellschaft", die weder revolutionären
Krieg noch blutige Aufstandsbekämpfung will.
Februar / März 1994
Kaum vier Wochen später gibt Subcomandante Marcos sein erstes
Presse-Interview, Ende Februar kommt es zum ersten Gesprächsversuch
zwischen Regierungsgesandten und EZLN-Vertretern in der Kathedrale
von San Cristóbal. Ein 32-Punkte-Plan wird verabschiedet,
der soziale, aber keine politischen Forderungen berücksichtigt;
im Juni teilt die EZLN mit, dass die Basisgemeinden mit knapp
97% gegen den Plan gestimmt haben.
August 1994
Zweieinhalb Wochen vor den Präsidentschaftswahlen machen
sich 700 Journalisten, prominente Intellektuelle und ein paar
Tausend zivile Anhängerinnen der EZLN auf den Weg in eine
Lichtung im Lacandonenwald, um dort die Convención Nacional
Democrática (CND) abzuhalten. Die EZLN ruft nicht zum Wahlboykott,
sondern zu einer "Stimme für die Demokratie" auf.
Februar 1995
Kurz nach einem vertraulichen Treffen zwischen Regierungsvertretern
und der EZLN-Comandancia kündigt Präsident Zedillo überraschend
eine Großoffensive gegen die Guerilla an, erlässt Haftbefehle
und gibt die geheimdienstlich ermittelte Identität der Führer,
darunter des Subcomandante Marcos bekannt. Es kommt zu Protestaktionen
im In- und Ausland ("Wir alle sind Marcos!"), kurz darauf
muss die Offensive eingestellt werden.
Februar 1996
Regierungs- und EZLN-Vertreter unterzeichnen am 16. Februar im
Hochlanddorf San Andrés Larraínzar die ersten -
und bislang einzigen - Teilabkommen (Acuerdos de San Andrés),
in denen eine Reihe indigener Selbstbestimmungsrechte vereinbart
sind. Die Fortsetzung der Gespräche zu Themen wie Entwicklung
und Demokratie ist ausdrücklich vorgesehen. Die Acuerdos
werden aber nicht umgesetzt, die EZLN kündigt den Dialog
auf, eine von der parteiübergreifenden Parlamentskommission
COCOPA ausgearbeitete Gesetzesinitiative wird von Zedillo blockiert.
Paramilitärische Umtriebe im Konfliktgebiet nehmen zu.
Juli 1996
Die Zapatistas laden zu einem "Intergalaktischen Treffen
gegen den Neoliberalismus und für die Menschheit" erneut
in den Lacandonendschungel ein, zu dem mehrere Tausend Teilnehmer
aus über 45 Ländern der Welt anreisen.
Oktober 1996
Mit Comandante Ramona tritt erstmals eine Zapatista auf dem Zócalo
von Mexiko-Stadt auf. Zugleich wird der Dachverband der unabhängigen
Indio-Bewegungen gegründet, der Congreso Nacional Indigena
(CNI), unter dem Motto "Nie wieder ein Mexiko ohne uns!"
Dezember 1997
Im Hochland von Chiapas kommt es verstärkt zu Massenvertreibungen
zapatistischer Sympathisanten. Am 22. Dezember massakriert eine
Gruppe indigener Paramilitärs im Flüchtlingslager von
Acteal 45 unbewaffnete Frauen, Männer und Kinder während
eines Friedensgebets. In den Folgemonaten werden Hunderte von
ausländischen Menschenrechtsbeobachtern von der Zedillo-Regierung
ausgewiesen. Die EZLN verstummt.
Juli 1998
Ein langes Kommuniqué ("Masken und Schweigen")
bricht die Funkstille und kündigt neue Initiativen an.
März 1999
Fünftausend Frauen und Männer aus den Basisgemeinden
der Zapatistas reisen durch die Republik, um für eine zweite
Volksbefragung über indigene Autonomien zu werben, an der
sich etwa zweieinhalb Millionen Menschen beteiligen.
Dezember 2000
Bei seinem Amtsantritt kündigt der neue Präsident Vincente
Fox den Abzug von Militärstützunkten, die Freilassung
gefangener Zapatistas und die Wiedervorlage der COCOPA-Initiative
im Kongress an. Einen Tag später bricht die EZLN ihre sechsmonatige
Funkstille mit einer Pressekonferenz im Lacandonendschungel. "Der
Sturz der PRI war eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung
für den Wandel im Lande", heißt es in einem offenen
Brief.
Februar / März 2001
Um für die COCOPA-Initiative zu werben, machen sich die Zapatistas
erneut auf den Weg durch die Republik. Am 11. März wird die
Comandancia von Hunderttausenden auf dem Zócalo von Mexiko-Stadt
empfangen, am 28. desselben Monats kommt es zu einem spektakulären
Auftritt von der Tribüne des mexikanischen Kongresses. Nicht
Marcos, sondern Comandante Esther spricht zu den Parlamentariern
über die Vorteile indigener Autonomien.
April 2001
Vier Wochen später verabschieden Senat und Kongress einen
Gesetzesentwurf, der in wesentlichen Punkten weit hinter der ursprünglichen
Initiative zurückbleibt; so sind indigene Gemeinschaften
nicht wie gefordert als "Rechtssubjekte", sondern lediglich
als Träger öffentlichen Interesses anerkannt. Erwartungsgemäß
wertet die EZLN die Reform als "Verrat" und "schwere
Beleidigung" - und bricht alle Kontakte ab. Seither ist Schweigen.
Eine Geschichte
Aus einem Gespräch von Subcomandante Marcos mit den Intellektuellen
Carlos Monsiváis, Elena Poniatowska, Carlos Montemayor,
Pablo González Casanova, José Saramagao, Manuel
Vázquez Montalbán und Bernard Cassen am 12.3.2001
in Mexiko-Stadt.
Der andere Spieler
(...) Eine Gruppe von Spielern ist in eine wichtige, hochkarätige
Schachpartie vertieft. Ein Indio kommt näher, beobachtet
und fragt, was sie da spielen. Keiner antwortet ihm. Der Indigena
nähert sich dem Brett, betrachtet die Position der Figuren,
die ernsten, finsteren Mienen der Spieler und die erwartungsvolle
Haltung derjenigen, die darum herumstehen. Er wiederholt seine
Frage. Einer der Spieler lässt sich herab, ihm zu antworten.
"Das ist etwas, was du nicht verstehen würdest. Das
ist ein Spiel für wichtige und weise Leute." Der Indigena
bleibt stumm und schaut weiter auf das Brett und die Bewegungen
der Kontrahenten. Etwas später wagt er eine weitere Frage:
"Und warum spielt ihr, wenn ihr doch schon wisst, wer gewinnen
wird?" Derselbe Spieler, der ihm vorher geantwortet hat,
sagt: "Das wirst du nie verstehen, das ist für Experten,
das übersteigt deinen intellektuellen Horizont." Der
Indigena sagt nichts. Er schaut weiter, dann geht er weg. Nach
einer Weile kommt er wieder und schleppt etwas mit. Ohne ein Wort
nähert er sich dem Spielbrett und stellt mitten aufs Spielbrett
einen alten, schlammverschmierten Stiefel. Die Spieler empören
sich und schauen ihn zornig an. Der Indigena lächelt maliziös
und fragt: "Schach?"
Ende der Erzählung
Samuel Taylor Coleridge, ein englischer Poet des 18. Jahrhunderts
schrieb: "Wenn ein Mann das Paradies in einem Traum durchquerte,
und man ihm eine Blume gäbe, als Beweis dafür, dass
er da gewesen ist, und wenn er dann beim Aufwachen diese Blume
in seiner Hand finden würde... was wäre dann? (...)
Von den Bergen des mexikanischen Südostens bis zum Zócalo
von Mexiko-Stadt haben wir Zapatistas ein Territorium der Rebellion
durchquert, die uns eine Blume der dunklen Würde gegeben
hat, als Beweis dafür, dass wir da waren. Wir sind in das
Zentrum der Macht gelangt und haben diese Blume in unseren Händen
gefunden und die Frage, wie bei Coleridge, was wäre dann?
(...) Die Macht will den heutigen indigenen Kampf in der Nostalgie
gefangennehmen ... im Sinne von ,Die Vergangenheit erreicht uns
mit ihren offenen Rechnungen', in diesem modischen Business-Jargon.
Als ob die Bezahlung dieser Rechnung das effiziente Mittel wäre,
um diese Vergangenheit auszulöschen. (...) Der Kampf der
mexikanischen Indios ist nicht gekommen, um die Uhr zurückzustellen.
Es geht nicht darum, zur Vergangenheit zurückzukehren. (...)
Nein, die indigenen Völker sind gekommen, um die Uhr aufzuziehen
und sicherzustellen, dass es ein offenes Morgen gibt, tolerant
und plural, was, nebenbei bemerkt, überhaupt das einzig mögliche
Morgen ist. (...) Um das zu tun ... haben wir auf die Kunst zurückgegriffen,
zu lesen, was noch gar nicht geschrieben steht. (...) Der Schlüssel
der Erzählung ,Der andere Spieler' ist nicht in dem alten
Stiefel voller Schlamm, der das Medienschach der Männer der
Macht und des Geldes unterbricht und unterläuft ... Das Wesentliche
ist in dem Lächeln, das der Indigena lächelt, weil da
etwas ist, was er weiß. Er weiß, dass da noch ein
anderer Spieler fehlt, der er selber ist und zugleich der Andere,
der nicht er ist, der aber auch ein Anderer ist und der fehlt.
Vor allem aber weiß er, dass es nicht wahr ist, dass der
Kampf vorüber ist und dass wir verloren haben. Er weiss,
dass er gerade angefangen hat. Und er weiss es nicht, weil er
es weiss, sondern weil er es träumt. (...)"
Aus dem Spanischen
von Anne Huffschmid
Siehe auch die Information zur Dissertation von Anne Huffschmid:
Diskursguerilla: Wortergreifung und Wider-Sinn. Die Zapatistas
im Spiegel der mexikanischen und internationalen Öffentlichkeit
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