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Frontera: Perspektiven auf die Grenze
Kurzfilme und Videos aus der Grenzregion Mexiko-USA
von Norma Iglesias Prieto
Abgesehen vom Neuen Mexikanischen Kino, das ein komplexes Bild
der Grenze zeigt, haben die eigentlichen Bewohner der Grenze keine
Möglichkeit gefunden, sich in Filmen auszudrücken. Das
liegt vor allem am zentralistischen System Mexikos. Es gibt in
keiner Stadt an der nördlichen Grenze Filmschulen. Es gibt
dafür keine Infrastruktur und kein Geld. Was die Künstler
der Region verwirklicht haben, sind Kurzfilme in Form von Videos.
Die Videokünstler haben es in einem kurzen Zeitraum von etwa
8 Jahren geschafft, eine Anzahl von wichtigen Filmen zu produzieren.
Sie sind völlig anders und komplexer im Gegensatz zudem,
was das kommerzielle Kino in einem langen Zeitraum erreicht hat.
Die Videokünstler haben mit ihren Kameras angefangen, einen
großen Teil der Realität zu zeigen, die im kommerziellen
Kino nicht zu sehen ist. Und es war nicht ihre Absicht, ein sog.
Grenzvideo zu drehen. Ganz im Gegenteil. Ziel der Künster
war es, sich von diesem Etikett "Grenzfilm" zu entfernen,
um nicht in die Gefahr der Stereotypen zu gelangen. Trotzdem,
die Grenze und ihre Ästhetik, sowie die Eigenschaft der Grenze
als Treffpunkt und als Gegensatz der Kulturen der sogenannten
Ersten und Dritten Welt ist auch hier zu sehen. Eine unvermeidbare
Tatsache, die die künstlerischen Potenziale bereichert.
Die Grenze ist etwas Selbstverständliches in ihren Arbeiten,
denn die Sorgen, Erfahrungen und Wege drehen sich um sie. Ihre
Alltäglichkeit wird unweigerlich an der Tatsache festgemacht,
daß die Städte Nachbarn der USA sind. Die Künstler
suchen auf der Straße nach Bildern, Geschichten, Situationen
und Ereignissen, die ihnen alltäglich erscheinen, aber absolut
neu für die audiovisuelle Geschichte dieser Städte sind.
Das Grenzkino lebt von fiktiven Geschichten, die den Vorstellungen
und Konventionen derjenigen entsprechen, die die Filme gemacht
haben. Die Erzählungen der Videokünstler beruhen auf
einem Prozess der visuellen Wiederfindung ihrer Stadt und der
täglichen Erfahrungen als Einwohner. Sie konzentrieren sich
auf die Dynamik und Gegensätzlichkeit, die Grenzstädte
auszeichnet. Sie verleihen einer Reihe von Personen und Problemen
Stimme und Verständnis, die im kommerziellen Kino fast immer
vergessen werden. Zum ersten Mal ist auf der Leinwand eine reiche
Ansammlung von Personen aller Art zu sehen. Gezeigt werden Jugendliche
der Mittelklasse, die Halbwüchsigen[1], die Leute in den
Ballsälen, die Textilarbeiterinnen, bis hin zu den nordamerikanischen
Touristen und die japanischen Unternehmer.
Auch neue Situationen sind zu sehen wie der Weg einer Familie
aus Tijuana zum Strand, Einkaufszentren oder die Waschsalons in
San Diego oder "Die von der anderen Seite"[2]. Auf der
Leinwand erscheinen die us-amerikanischen Touristenströme,
die für ein paar Stunden nach Tijuana kommen, auf der Suche
nach einer exotischen Erfahrung. Und es geht um den Stammbaum
der Künstler selbst, in dem die Geschichte der Migration
steckt und die unzähligen Erfahrungen der Grenzüberschreitungen.
Miteingeschlossen sind die Träume und Fantasien, die die
Erlebnisparks wie Disneyland in Kalifornien in den Kindern aus
Tijuana hervorrufen. Oder das Treiben und die menschlichen Begegnungen,
die sich in den öfffentlichen Verkehrsmittel der Stadt spontan
ereignen und die bekannten "swapp meets"[3] oder die
ganze Second Hand Wirtschaft oder Wegwerfwirtschaft, die die Städte
an der Grenze auszeichnet. Ebenfalls zu sehen sind die Feste,
die sog. "Tocadas" und die lokalen Gruppen wie Nortec.
In diesen Videos wird versucht, nicht nur die Alltäglichkeit
der Grenze sondern ihre Eigenschaft als Treffpunkt und Trennungspunkt,
zu zeigen, den mehrstaatlichen Raum. Man versucht fast intuitiv
das lokale mit der persönlichen Perspektive zu verquicken.
Man besteht darauf, von den Überquerungen, den Mischungen,
dem Kontrast, der Wechselwirkung und dem Austausch zu sprechen;
der Gewalt, die eher sozial als körperlich ist. Auf diese
Art und Weise haben die jungen Videokünstler ohne moralische
Diskurse und heilige und bewährte Formeln ihre Stadt neu
erobert und erfahrbar gemacht. Mit der Videokamera haben sie neue
Themen, Sichtweisen und Rythmen gefunden und somit einen Beitrag
zum Abbau der Grenze geleistet. In ihren dokumentarischen, experimentellen
und fiktiven Videos wird ein städtischer Raum gezeigt, dargestellt
als Tür, Fenster oder Loch, der den Eingang und Ausgang von
Produkten, Leuten, Ideen, Kulturen, Kunst und Technologie ermöglicht.
Die Grenze ist ein permanenter Riss, der einen ein- und ausgehen
läßt, der die Mischung, aber auch die Trennung zuläßt
und die Anerkennung des Eigenen. Man verbindet die Grenze mit
Bewegung. Eine Grenze, die im Moment der Selbstbetrachtung und
Selbstdarstellung einen immerwährendes Befragen der Elemente
herausfordert, die sie erhalten und die die Bewohner dieser Region
ausmacht.
Einige dieser Kurzfilme in Videoform, die beim Festival MEXartes-berlin
gezeigt werden, versuchen die Dynamik, die in diesem
Landesteil Mexikos steckt, offenkundig zu machen. Größtenteils
sind es experimentelle Arbeiten, die dem Publikum die Möglichkeit
bieten, sich mit einem anderen als dem offiziellen und traditionellen
Mexiko vertraut zu machen. Es sind Werke junger Künstler,
die als ihre Strategie beschlossen haben, Inhalte aller Richtungen
aufzusaugen, ohne dabei ihre identitätsbildenden und tiefsten
Wurzeln aus Acht zu lassen: Ihre Erfahrung als Einwohner der Grenze
um Tijuana, den lokalen Charakter und sein Spezifikum. Es sind
globalisierte Künstler, die sich selbst jeden Tag neu erfinden
und neu entdecken. Die sich nicht nur trauen, sondern beschliessen,
ohne Angst die kulturellen Grenzen und die der Massenmedien zu
überschreiten. Künstler mit einem enormen Potenzial,
die vor der Verschmelzung und dem Versuch nicht zurück schrecken.
Leute, die dafür einstehen, neue Formen des Ausdrucks ihrer
Erfahrungen als "Grenzkünstler" zu finden.
Anmerkungen:
1) Im spanischen Text heißt es: " los quinceañeras".
Es handelt sich um die 15 Jährigen, für die ein rituelles
Fest ausgerichtet wird, denn es ist der Übertritt von der
Kindheit in das Erwachsenen Alter. Traditionell tragen die Mädchen
ein langes Kleid. Sie werden von anderen Jugendlichen begleitet
und tanzen Walzer.
2) So werden die US-Bürger im Norden Mexikos
umgangsprachlich genannt.
3) Das sind vor allem Wochenendmärkte, Second
Hand Märkte, wo Alles verkauft wird. Für viele Familien
aus Tijuana, San Diego und Los Angeles ist der Besuch solcher
Märkte ein bekanntes Vergnügen in der Freizeit.
Aus dem Spanischen von Monika
Tkotz-Böhme
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