MEXartes-berlin.de / Stadt
http://www.mexartes-berlin.de/deu/02/villoro.html << zurück


Der künstliche Himmel
Von Juan Villoro

Mexiko-Stadt wächst mit der gleichen überraschenden Geschwindigkeit, die Epidemien und Invasionen eigen ist. Dem Reisenden fällt zunächst auf, dass er sich in den Straßen kaum orientieren kann. "Diese Stadt ist der einzige Ort, an dem ich Angst hatte, mich für immer zu verlaufen", bemerkte der Triester Schriftsteller Claudio Magris. Unsere Straßen wiederholen die Namen unserer Nationalhelden, als ob sie damit deren Glanz aufpolieren würden. Im Stadtplan werden 179 Zapata-, 215 Juárez- und 269 Hidalgo-Straßen aufgeführt, was eigentlich für 20 hinreichend patriotische Metropolen reichen würde. Beim Einsteigen in ein Taxi bittet der Fahrer den Fahrgast sogleich: "Sie sagen mir, wo es langgeht." Mit dieser Bemerkung weist er jegliche Verantwortung von sich, sich in dem Labyrinth zurechtzufinden. Es ist nur natürlich, dass die professionellen Fahrzeuglenker sich unmöglich in einem Territorium zurechtfinden können, das jegliche menschliche Erfahrung übersteigt.
Erstaunlich ist als Erstes, dass die größte Stadt der Welt sich in sich selbst verliert. Das Problem besteht nicht darin, das Haus zu betreten, sondern die Zimmer zu finden. Die Grenzen der Stadt sind so weit entfernt, dass es falsch klingt, von einem Außen zu sprechen. Wir haben die Wahrnehmung der Peripherie verloren. Der Flug-hafen, der einstmals den östlichen Stadtrand darstellte, ist im lärmenden Zentrum versunken.

Von Tenochtitlan zum Bundesdistrikt: ein tausend-fach korrigiertes Palimpsest; Entwürfe über Entwürfe, die längst ihr Ausgangsmodell vergessen haben und niemals in eine endgültige Version münden werden: Die schwimmende Stadt der Azteken, das von Vizekönig Mendoza erträumte Schachbrett, die vom Regenten Uruchurtu geförderten Prachtstraßen, die unendlichen vielen Straßenhändler, die heutzutage die heterogenen Wolkenkratzer der Postmoderne umspülen, sie alle stellen eine Landschaft dar, in der Epochen zusammenleben, ohne sich auszulöschen.

Sogar die Erdkruste widerspricht hier der Zeit. Dem Seismologen Cinna Lomnitz zufolge hat sich Mexiko-Stadt am 19. September 1985 wie ein See verhalten. Von diesem Standpunkt aus muss die Stadt als Wasserbecken betrachtet werden. Die Erde erinnert sich an die Landschaft, die die Azteken vorfanden. Wir haben zwar den See trockengelegt, aber die tellurische Uhr zeigt etwas anderes an: Unsere Autos fahren auf einer impliziten Wasserfläche.

Alle Epochen mischen sich hier zu einem gegenwärtigen Mischstil. Unser ausgedehntes Wasserrohrnetz versinkt in der aztekischen Siedlung, die kolonialen Paläste tragen stolz Stückwerk der Pyramiden, die Symbole in der U-Bahn sind ein widersprüchlicher Kodex der "vorspanischen Moderne", die Statuen wechseln ihren Standort und die Gebäude ihre Nutzung (die politischen Gefangenen der 68er-Bewegung kehren in ihre alten Zellen zurück, um dort ihre Akten einzusehen; in einer historischen Wende wird das Lecumberri-Gefängnis zum Generalarchiv der Nation).

Mexiko-Stadt ist vor allem verschlingendes Wachstum, ein Chaos, welches uns tagtäglich mit frenetischer Intensität überholt. George Steiner hat einmal bemerkt, dass seine Bewunderung für die Schriftsteller sich in den Straßen von Paris ausbildete. Als er sah, dass seine Lieblingsorte Voltaire, Hugo oder Diderot hießen, dachte er: "Das sind die Löwen." Was passiert, wenn die literarischen Löwen in unseren Bundesdistrikt kommen? Sie stellen fest, dass die Stadt frei herumläuft. Sollte dieses Territorium, das die Chronologie verwischt und sich allen Raum unterwirft, am Ende doch einem übergeordneten Plan folgen, einer geheimen Ordnung, die all dies gerechtfertigt?

Passagiere, die nachts am Flughafen Benito Juárez ankommen, bestaunen beim Landeanflug einen umgekehrten Himmel. Tausende Sterne pulsieren am Horizont. Das Flugzeug verfolgt eine Galaxie. In dieser unfassbaren Landschaft verbirgt sich der Schlüssel zum Verständnis des geheimen Vorsatzes von Mexiko, Bundesdistrikt. Die gesamte Geschichte dieses, unseres Ortes weist auf die Schaffung eines künstlichen Himmels hin. Die aztekischen Bauten entstanden über dem See und spiegelten sich in dessen Wassern wider; die Stadt hatte zwei Himmel. Seit damals leben wir in dem Versuch, diese Himmel zu unterdrücken und einen komplizierten Ersatz für sie zu suchen. Jahrhundertelang haben wir uns angestrengt, die Wasser des Sees abzuleiten, und danach - dank unserer industriellen Delirien - haben wir die reine Luft ausgelöscht. Heutzutage ist der Himmel ein diffuser Nebel, den die Kinder in ihren Schulheften mit braunen und grauen Stiften ausmalen. Mit einer ganz eigenen Fortschrittslogik hat das moderne Tenochtitlán die Elemente zerstört, die es erst möglich machten.

Es ist kein Zufall, dass die mexikanische Literatur von diesem himmlischen Fall Zeugnis ablegt. 1869 spricht Ignacio Manuel Altamirano nach einem Besuch der Candelaria de los Patos von der "ätherischen Atmosphäre", die die Stadt bedroht; 1904 ruft Amado Nervo aus: "Sie haben unseren blauen Himmel gestohlen!", 1940 fragt Alfonso Reyes: "Dies soll die Region mit der durchsichtigsten Luft sein? Was habt Ihr aus meinem metaphysischen Hochtal gemacht?" Drei Jahrzehnte später antwortet Octavio Paz:

die Sonne hat den See nicht ausgetrunken
die Erde hat ihn nicht geschlürft
das Wasser ist nicht in die Luft zurückgekehrt
die Namen haben den Staub exekutiert

1957, dem Jahr eines unserer stärksten Erdbeben, schreibt Jaime Torres Bodet das Gedicht "Statue", welches er schließlich aber aus seinem Buch "Pausenlos" (Sin tregua) streicht:

Du warst, Stadt. Du bist nicht.
Straßenbahnen haben dich erdrückt,
Autos und Magnesiumnächte.
Um deine Landschaft zu entdecken
Brauch ich heute einen genauen,
langsamen Röntgen-Apparat.
Wie krank deine Bäume sind!
Was für ein Trümmerhaufen dein Himmel!

Die Literatur ist genau der Apparat gewesen, den Torres Bodet sich erwünscht hat, um die Stadt zu untersuchen, die so viele Umwandlungen durchleben musste. 1957, in jenem Erdbebenjahr, fiel die Statue des Engels der Unabhängigkeit zu Boden. Es handelte sich um einen
symbolischen Moment im Leben der Stadt: Der Himmel war nicht länger oben. Das war die Botschaft, die der Engel in seiner Orientierungslosigkeit anbot. Doch wir haben lange gebraucht, um sie zu verstehen. "Das einzige Problem daran, in den Himmel zu gehen", schreibt Augusto Monterroso, "besteht darin, dass man den Himmel von dort aus nicht sieht." Wir leben in dem nicht perfekten Paradies, das sich nicht selbst betrachten kann. Nachts flammt die Stadt wie ein mächtiger, ungeordneter Sternenhimmel auf. Welch übergeordneter Wille erklärt diese Umkehrung des Himmels?

In den "Unsichtbaren Städten" beschreibt Italo Calvino die Mechanismen verschiedenster Städte auf der Welt. Einer davon lässt sich auf Mexiko anwenden: Jahrelang errichten Heere von Maurern und Arbeitern Dämme und Mauern, die den Launen eines schwachsinnigen Gottes zu folgen scheinen. Doch eines Tages bekommen die Menschen Angst vor Sand und Zement. Bauen ist für sie eine Form der Maßlosigkeit geworden. Trotzdem gibt es jemanden, der hinter all den Straßen und Gebäuden einen Sinn erahnt: "Wartet auf die Dunkelheit und macht alle Lichter aus", sagt er. Als die letzte Lampe erlöscht, bestaunen die Bauleute die Himmelskuppe. Sie verstehen nun das Projekt. Dort oben erstrahlt der Plan der Stadt.


Aus dem Spanischen von Peter Stegemann

 


<< zurück © Copyright: Autor